Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Wiedergründung des polnischen Staates wurde Oberschlesien zu einem Brennpunkt nationaler Spannungen. Die Siegermächte entschieden, das Gebiet zwischen Deutschland und Polen aufzuteilen. Der östliche Teil, der an Polen fiel, erhielt einen besonderen Status:
- Autonomiestatus: Am 15. Juli 1920 wurde die Autonome Woiwodschaft Schlesien (Autonomiczne Województwo Śląskie) innerhalb des polnischen Staates gegründet. Sie verfügte über weitgehende Selbstverwaltungsrechte, die in einem eigenen Statut festgeschrieben waren.
- Eigenes Parlament: Das schlesische Parlament (Sejm Śląski) konnte in vielen Bereichen eigenständig Gesetze erlassen, die nur für das Gebiet der Woiwodschaft galten. Es hatte weitreichende Kompetenzen in Fragen der Wirtschaft, des Bildungswesens, der Kultur und der inneren Sicherheit.
- Regionale Regierung: An der Spitze der Autonomen Woiwodschaft stand der Woiwode, der vom polnischen Staatspräsidenten ernannt wurde. Ihm zur Seite stand eine regionale Regierung, die vom schlesischen Parlament gewählt und kontrolliert wurde.
- Finanzielle Unabhängigkeit: Die Woiwodschaft verfügte über einen eigenen Haushalt und das Recht, Steuern zu erheben. Ein Großteil der Einnahmen aus der in Ostoberschlesien konzentrierten Industrie floss direkt in die regionale Kasse, nicht nach Warschau.
- Schutz der deutschen Minderheit: Das Autonomiestatut garantierte der deutschen Minderheit weitgehende Rechte, darunter muttersprachlichen Schulunterricht, deutsche Zeitungen und Kultureinrichtungen. Allerdings kam es immer wieder zu Spannungen mit der polnischen Zentralregierung.
Der Autonomiestatus Ostoberschlesiens war ein Novum im Europa der Zwischenkriegszeit und weckte bei vielen Schlesiern die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben jenseits nationaler Gegensätze. Doch dieser "schlesische Traum" währte nur kurz:
- Konflikte mit Warschau: Die polnische Regierung versuchte, den Sonderstatus der Region schrittweise auszuhöhlen. Kompetenzen wurden beschnitten, das Budget gekürzt und der Einfluss Warschaus nahm stetig zu. Dies führte zu wachsenden Spannungen.
- Wirtschaftskrise und Radikalisierung: Die Weltwirtschaftskrise traf die oberschlesische Industrie hart. Massenarbeitslosigkeit und soziale Not waren die Folge. In diesem Klima gewannen radikale und separatistische Strömungen an Zulauf, auf deutscher wie auf polnischer Seite.
- Ende mit dem Überfall auf Polen: Mit der Besetzung Polens durch NS-Deutschland im September 1939 endete die Autonomie Ostoberschlesiens abrupt. Während des Zweiten Weltkriegs stand die gesamte Region unter deutscher Herrschaft.
Das Experiment der Autonomen Woiwodschaft Schlesien scheiterte letztlich an den Gegensätzen der Zwischenkriegszeit. Es zeigte aber auch das Potenzial regionaler Selbstverwaltung in einem Europa der ethnischen Gemengelagen. Der Autonomiegedanke blieb in Schlesien lebendig - und erlebt heute eine Renaissance.