Manfred Alexander

Manfred Alexander

 

Oberschlesien gilt für viele Deutsche ohne besondere Kenntnis als eine Region, in der es einen Dauerkonflikt zwischen Deutschen und Polen gab, der  schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Aussiedlung oder Vertreibung der Deutschen beendet wurde. Manche wundern sich vielleicht noch, dass dennoch in den Jahren danach, selbst nach dem Fall des kommunistischen Systems, aus dieser Region Menschen kamen, die sich für „Deutsche“ erklärten, auch wenn sie dies oft kaum in korrekter deutscher Sprache sagen konnten. Wo Kenntnisse fehlen, entstehen oft viele Vorurteile.

Oberschlesien ist eine Region eigener Art innerhalb des größeren Gebildes Schlesien in der europäischen Geschichte, das durch die Eroberung Friedrichs II. – Markgraf von Brandenburg und König in Preußen – 1740  zum größten Teil aus dem bis dahin homogenen Gebilde unter österreichischer Herrschaft herausgeschnitten und danach in mehreren Kriegen behauptet werden konnte: Aus einer zentraleuropäischen Landschaft im Übergang zwischen der  Ebene nördlich der Karpaten und dem Donauraum war eine Randlage innerhalb Preußens geworden.

Zwei Besonderheiten kennzeichnen Oberschlesien: die Sprachenfrage der einheimischen Bevölkerung und die Wirtschaftsstruktur, wobei beides ineinander greift.

Die Mehrheit der Bevölkerung sprach und spricht einen slavischen Dialekt, der einen Übergang zwischen der polnischen Schriftsprache und der benachbarten mährisch-slowakischen Variante des Slavischen darstellt.  Die enge Beziehung zur deutschen Sprache hat zur Aufnahme vieler  Lehnworte aus dem Deutschen geführt, so dass die Sprache oft als „wasserpolnisch“ diffamiert wird. Diese schlesisch-polnische Sprache (slask, deutsch als „schlonsakisch“ bezeichnet) – war in Preußen die Sprache der Landbevölkerung in den südlichen und östlichen Teilen Oberschlesiens. Daneben gab es aber auch landwirtschaftlich gesprägte Gebiete im westlichen und nördlichen Oberschlesien (Bezirk Oppeln), in denen die örtliche Variante des Deutschen als „schlesischer Dialekt“ gesprochen wurde.

Mit dem Aufbau der Industrie am Anfang des 19.  Jahrhunderts entstand eine Städtelandschaft, in der durch Zuwanderer aus dem westlichen Preußen die deutsche Sprache vordrang und wegen der besseren Bildung und der höheren sozialen Stellung ihrer Sprecher den Vorrang erlangte. „Deutsch“ wurde so das Kennzeichen für gebildet, wohlhabend und evangelisch; „polnisch“  stand für ungebildet, ländlich-grob und katholisch.

Die Gegenüberstellung von unterschiedlicher Sprache, Bildung, sozialer Stellung und Religion prägte das Bild der Region, und wurde in dem Gegensatzpaar „deutsch-polnisch“ verkürzt zusammen gefasst.

Das Problem bindet sich aber auch in den größeren Konflikt zwischen dem Staat Preußen – und dann ab 1871 Deutschland – und seinen polnischsprachigen Bewohnern ein, das sich im Großherzogtum Posen in einem Kultur- und Sprachenkampf bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zugespitzt hat. In diesem Konflikt wurden die polnischsprachigen Oberschlesier von Journalisten und Geistlichen aus den anderen Gebieten Preußens als Objekt einer Bewegung hin zu einem polnischen Nationalbewusstsein verstanden. Eine Gesellschaft, deren aufsteigende Mitglieder überwiegend zur Übernahme der deutschen Sprache tendierten – oder gedrängt wurden -,  fand sich in einem Zwiespalt zwischen der deutschen Hochsprache, die in der Schule zwangsweise gelehrt wurde, und der polnischen Hochsprache, die von vielen Geistlichen in der Messe oder von Journalisten in der Presse verwendet wurde. Daraus entstand aber eine eigene Sprachkultur, die sich im Nebeneinander der beiden Sprachen im Alltag – und manchmal in einem Satz –  herausbildete, für Fremde unverständlich blieb, aber dadurch gerade ein besonderes Wir-Gefühl“ („einer von uns“) zur Folge hatte.

Den „Schlonsaken“ ist es nicht gelungen, eine eigene Intelligenz in ihrer Sprache auszubilden, weil die soziale oder politische Realität die Menschen in die deutsche oder polnische Sphäre absog und in einen Dauerkonflikt zwischen den drei Hochsprachen deutsch, polnisch und tschechisch brachte.

Die Politisierung der Sprachenfrage erreichte ihren Höhepunkt, als nach dem Ersten Weltkrieg die Abstimmung über die Zugehörigkeit der Region zu Deutschland oder zur neubegründeten Republik Polen die Familien und viele Personen buchstäblich „zerriss“, weil viele Betroffene darunter nicht die Wahl einer Staatszugehörigkeit sondern die Identifizierung mit nur einer Sprache und Kultur verstanden, während  das Nebeneinander beider für sie „normal“ war. Die Teilung des Landes nach der Abstimmung und den drei Aufständen, die Flucht und Vertreibung eines großen Teiles der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Weltkrieg und die Aussiedlung zahlreicher Menschen während der kommunistischen Herrschaft und danach, sowie bis heute die Arbeitsmigration vieler Menschen zwischen Deutschland und Polen zeigen das Fortleben dieser Tradition in einem Teil der Bevölkerung, wenn auch in erheblich vermindertem Umfang.

Oberschlesien ist bis heute ein Beispiel dafür, dass sich die gelebte Wirklichkeit der Menschen nicht immer in die saubere Trennung der Politiker oder Ideologen einfügt; Oberschlesien bleibt daher ein Beispiel für eine europäische Situation einer national-übergreifenden Identität.

 

Ausführlicher zum Thema vom Autor:

-Skutki  plebiscytu i podzialu Górnego Slaska. In: XVI powszechny zjazd historyków Polskich. Wroclaw 15 – 18 wrzesnia 1999 roku. Pamietnik Tom I. Torun 2000, S.  303-309.

-Oberschlesien im 20. Jahrhundert – eine missverstandene Region. In: Geschichte und Gesellschaft. 30 (2004) S. 465-489.

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